Der Mann und die Sirene
Eine Kurzgeschichte über das Loslassen und das Wiederfinden.
ZWISCHEN DEN ZEILEN
Vincent
3/15/20257 min lesen


Du hast mich gerufen, weil du Hilfe brauchtest. Du hast meine Silhouette im Boot gesehen und hast gedacht, ich bin dein Retter. Und ich habe eine hübsche Meerjungfrau gefunden, die am Untergehen war. So dringend wollte ich dir helfen, und so dringend wolltest du mich haben. Doch damals hast du nicht meinen Schatten gesehen, der hinter meinem Boot mitschwamm. Und ich habe nicht die Knochen gesehen, die unter dir am Meeresgrund lagen.
Wir bekamen beide, was wir wollten. Du bekamst den naiven Mann, und ich hatte das Gefühl, dass ich meinen Nutzen gefunden hatte. Es dauerte nicht lange, bis ich merkte, dass ich dich liebte. Ich war jung und machte viele Fehler, du aber genauso. Du brauchtest meine Hilfe und schon bald, nachdem ich deine verletzte Flosse befreite, schwammen wir beide raus ins Meer. Immer noch Unterstützung suchend, empfand ich es als meine Aufgabe, dir diese zu geben. Und deine Flosse unter Wasser heilte langsam, was mich fröhlich machte, aber ich wollte dich weiter über Wasser halten.
Die Jahre vergingen und ich bemerkte nicht, dass du nun schon wieder bei voller Kraft warst, dass du keine Hilfe mehr brauchtest, dass die Hände, die dir einst halfen, dich nun festhielten. Du stecktest wieder fest, aber nun nicht unter einem Stein oder einer Fischerleine, sondern an den Händen, die dich einst retteten. Und ich? Ich wurde müde, ich wurde erschöpft. Ich war nicht gemacht für das Wasser. Meine Beine wurden langsamer und bevor ich mich versah, gaben sie ganz auf zu paddeln. Stattdessen hielt ich mich nur noch an dir fest. Ich fand es immer noch schön, denn immerhin waren wir für immer zu zweit, ich musste dich nur weiter halten und dir meine Liebe ins Ohr flüstern. Du wolltest gehen, Runden schwimmen. Doch ich hatte Angst alleine im tiefen Wasser. Immerhin war ich ein Mann des Landes, damals aus dem Boot gesprungen, um dir zu helfen. Und nun war ich mitten im Meer.
Wir stritten uns und du schwammst davon. Gut gelaunt kamst du wieder und sahst mich das Wasser treten, kaum genug Energie, um über der Oberfläche zu bleiben. Du kamst angeschwommen und hieltest mich. Nun waren es deine Hände, die mich am Leben hielten. Du liebtest mich, und ich liebte dich. Doch du musstest jeden Morgen erneut gehen und kamst erst abends wieder. Ich versuchte nicht zu ertrinken in der Zeit, doch es wurde schlimmer und schlimmer. Wenn du mich abends wieder greifen wolltest, kratzten meine Finger panisch an deiner Haut und deiner Flosse, um Griff zu bekommen. Dieses Schauspiel ging einige Zeit, länger als ein Jahr, länger als 2 oder 3. Ich war kein Meerestier, dass hier überleben konnte.
Und du, du littst im Stillen. Du wusstest, dass ich gehen würde, sobald ich sehe, wie ich dir weh tat. Also bliebst du still. Doch was du nicht bemerktest, war, dass ich schon seit einiger Zeit deine zerkratzte Haut am Rücken entdeckt hatte. Als ich dann das Blut unter meinen Fingernageln fand, fragte ich mich, wieso du nichts sagtest, und ich sprach dich an. Doch jedes Mal, wenn ich dich ansprach, kam nichts, außer Stille. Du wolltest es nicht aussprechen, du wolltest nicht, dass ich die Wahrheit darüber erfahre, wie schlimm ich dir mit der Zeit wehgetan habe. Und deswegen litten wir beide weiter, lebten von Tag zu Tag. Deine Narben wurden dicker und meine Energie weniger. Immer mehr klammerte ich mich an dich, damit ich nicht unterging.
Irgendetwas musste sich ändern und ich merkte das. Dein Herz war voller Liebe und Schmerz, meines voller Liebe und Schuld. Ich musste etwas tun, und zwar jetzt. „Auf Wiedersehen, meine Liebe. Ich will dich nicht mehr und ich brauche dich nicht. Schau, wie ich schwimmen kann. Du kannst nun endlich wieder frei sein. Ist das nicht schön?“ Meine Lüge kauftest du zwar nicht ab, doch du akzeptiertest sie. Du warst sogar erleichtert. Du warst so erleichtert, dass dein tiefer Atemzug selbst heute noch in meinem Kopf widerhallt. Ich sammelte meine letzte Stärke, und schwamm davon. Als ich zurückblickte, warst du schon lange weggeschwommen. Das Einzige, was ich sah, waren die Wellen, die deine neugefundene Geschwindigkeit formten.
Direkt ließ meine Stärke nach. Ich klammerte mich an alle möglichen Meerestiere, Hauptsache, sie würden mich Richtung Ufer bringen. Es dauerte Wochen, bis ich es erreichte. Die ganze Zeit dachte ich an dich, und an deinen Atemzug der Erleichterung. Ich hatte meine Liebe mit meinen Krallen aus Versehen zerkratzt und musste nun mit meinem Gewissen leben. War ich ein Monster?
Oder warst du das Monster?
Wer hatte hier wen zerstört? Wessen Schuld war es?
So viele Jahre im Meer machten meine ersten Schritte auf dem festen Grund wackelig. Aber während du täglich heiltest, lernte ich täglich wieder zu laufen. Jeden Tag dachte ich an dich. Jeden Tag dachte ich an deine Schönheit und wie deine Wunden bald wieder geheilt sein würden. Oft besuchte ich den Strand, um zu sehen, ob ich einen schnellen Blick erhaschen könnte, doch alles, was ich sah, waren deine Wellen, die am Strand zerschellten.
Monate vergingen schneller als gedacht und meine Schritte wurden stark, bauten ein Leben auf. Und zwar ein Eigenes. Doch ich hatte einen Fluch auf mir. Jede Frau, die ich sah, egal wie schön, ließ mich kalt. Nachts träumte ich von dir und morgens wachte ich auf, versuchte nicht traurig zu sein. Mein Komfort in meiner neuen Welt war dein Wohlergehen, weg von mir zu sein. Meine Besuche am Strand wurden weniger, doch jedes Mal, wenn ich dort ankam, sah ich deine Wellen, noch stärker als davor.
Ich freute mich für dich. Zwar hatte ich keine Ahnung, was du gerade denkst, und deine Liebe bekam ich nun nicht mehr, doch das war okay für den Moment. Eine Liebe so stark wie unsere hatte es noch nie gegeben, da war ich mir sicher. Und auch eine Liebe, die aus zwei Welten so eine Symbiose bildete, hatte es wahrscheinlich noch nie davor gegeben. Du wurdest mein geheimes Herz, dass ich niemandem mehr zeigte. Es fütterte mich täglich mit Wechselstrom von Schmerz und Zuneigung.
Das Jahr verging und ich hatte es endlich geschafft. Ich hatte mich von all den Stimmen befreit, die mir Tipps gaben und festigte mich selbst. Während das Meer immer unruhiger wurde, wurde ich immer standhafter. Ein Haus folgte, keine Stunde vom Strand entfernt. Das Rauschen war von meinem Haus noch gut zu hören, doch ich wagte es nicht mehr, dort hinzukommen. Zu Laut war dein Atemzug bei unserem Abschied. Die Melodien der Wellen zu hören, reichte mir für den Moment. Die Möwen kamen jeden Morgen an meine Terrasse und berichteten von den Dingen, die sie sahen. Deine Flosse war wohl so wunderschön, dass wenn Fischer und Besucher sie ab und zu sahen, alle ins Meer rannten und ertranken. Du hattest wohl keine Intentionen, sie zu retten. Einmal erzählte mir eine Möwe, dass du wohl nachts an den Strand schwammst, als keiner da war. Du saßt im kniehohen Wasser und sangst in Richtung des Festlands. Ich weinte, als ich das hörte. Wie gerne wäre ich gerne am nächsten Morgen zum Strand gerannt, hätte mein Herz in die Wellen geschrien. Doch ich konnte nicht. Ich hatte Angst vor meinen Krallen, egal, wie oft ich sie täglich feilte.
Und dann verging noch ein Jahr. Die Wellen beruhigten sich, und auch ich traute mich wieder an den Strand. Es war ruhig dort. Keine Wellen, nur noch Echos der Erinnerungen.
Eines Nachts kam ich an den Strand, warum, weiß ich nicht mehr. Ich hatte einfach das Gefühl, dass ich das Wasser spüren musste. Barfuß schritt ich in das Meer, bis ich nicht mehr stehen konnte. Doch weiter schwamm ich nicht. Ich guckte in den leeren Horizont und paddelte ruhig auf der Stelle. Inzwischen konnte ich keine Angst mehr unterzugehen. Ich hatte inzwischen begriffen, dass das Meer nicht meine Welt war. Es war das erste Mal, dass ich wieder schwamm, seit damals. Es war mir klar, dass du meine Wellen im Wasser nicht bemerken würdest, immerhin hatten sie einen anderen Rhythmus angenommen. Doch dann rief ich deinen Namen. Ich rief ihn nur ein einziges Mal. Ich wollte schon wieder umkehren, denn keine einzige Welle von dir war zu spüren und ich erkannte nichts von dir mehr in dieser Welt. Letztendlich hatten wir uns verloren. Meine Kraft verließ meinen Körper in einem Moment. Würde ich hier ertrinken, im zwei Meter tiefen ruhigen Wasser? Keine Motivation der Welt konnte mich überreden, das Wasser weiter zu treten. Ich ließ mich sinken, und nur einen halben Meter später stand ich auf dem Grund des Meeres.
Ich öffnete die Augen. Da warst du. Direkt vor mir. Du hattest mich beobachtet, unter der Oberfläche. Du sahst so anders aus. Du hattest immer noch die gleichen Augen wie früher, das gleiche Lächeln. Und deine Narben, sie waren verheilt. Sie waren zwar noch zu erkennen, doch sie wirkten nicht mehr schlimm. Während du im Wasser vor mir schwebtest, stand ich vor dir im Wasser auf dem Grund, die Luft anhaltend, aber ebenso ruhig. Wir guckten uns an, ganz lange. Die Luft in meinen Lungen war schon lange aus, doch ich wagte es nicht, mich zu bewegen.
Vorsichtig streckte ich meine Hand nach vorne aus und hielt sie offen nach oben. In diesem Augenblick schämte ich mich für meine Krallen nicht mehr. Du zögertest einen Moment, doch auch deine Hand streckte sich vorsichtig aus. Deine Finger berührten meine offene Handfläche und fuhren sie entlang. Ich wagte es nicht, meine Hand zu schließen.
Überzeugt davon, dass dies der schönste Augenblick meines Lebens war, korrigiertest du mich. Denn du schlosst die Augen atmetest aus. Ein Atemzug der Erleichterung. Ich schloss meine Augen und als ich sie wieder öffnete, lag ich am Strand, eine Muschel in der Hand.
Jedes Jahr sahen wir uns wieder. Dein Leben im Meer, mein Leben an Land, beides wurde bunter. Andere Menschen in meinem Leben verstanden mich nicht. Ich wette, dir ging es genauso. Doch wir hatten unsere Liebe gefunden, auf eine andere Art als es andere taten.
Wie wir weiterlebten, wurde noch nicht niedergeschrieben, doch auch jetzt denke ich noch an diesen Atemzug der Erleichterung. Einerseits ist dieser Atemzug die schlimmste Erinnerung meines Lebens, und gleichzeitig verbinde ich so viel Glücklichkeit damit. Es ist schwierig, ein Fazit zu ziehen, dass man hier verstehen würde. Manche Dinge werden besser nicht ausgeschrieben und bleiben im geheimen Herzen.