Die Superkraft des Neins
Was passiert, wenn du Nein sagst? Wenn du aussteigst, nicht mitspielst, dich verweigerst – nicht aus Trotz, sondern aus Klarheit? In diesem Essay erzähle ich vom Mut zur Absage, vom Preis des Ausstiegs und von der Kraft, die daraus entsteht. Ein Plädoyer für das Nein als revolutionären Akt im Alltag – besonders dann, wenn das Ja bequemer wäre.
ZWISCHEN DEN ZEILEN
Vincent
4/15/20257 min lesen


Es ist eine Weile her. Aber alles, was ich jetzt brauche, ist ein einziger wahrer Satz, um diesen Essay zu starten. Was könnte er sein? Manchmal braucht man nur die eine Idee, die wahr ist. Aus ihr entspringen dann weitere Sätze und mit ihnen neue Ideen. Ich möchte heute über folgende Idee reden:
Nein sagen.
„Tue, was du nicht lassen kannst. Aber ich bin raus. Ich mach da nicht mit.“
Manchmal nimmt man an Aktivitäten teil, die man eigentlich nicht machen möchte. Einfach nur um reinzupassen. Man sagt „Ja“ zu Dingen, zu denen man „Nein“ sagen will. Von klein auf wird man von seinen Freunden erzogen, dass man dazugehören muss, um nicht ausgelacht zu werden. Man muss „Ja“ sagen zu den Dingen, die man nicht machen will.
Denn nur wer tut, was er nicht möchte, passt sich an die Gesellschaft an.
„TRAU DICH, SAG NEIN, SIEH WAS PASSIERT!“, lächelt dir dein Gewissen ins Gesicht.
Wie viel Prozent deiner Kindheit hast du überlebt? Wie viel Prozent deiner Essenz hat überlebt und wie viel Prozent sind Gesellschaft, Kultur und andere Meinungen?
Ich will dir so viel sagen, doch ich, meine Grenze ist hier, bei mir. Alles, was ich dir sage, wird gefiltert, kommt nicht so an, wie ich es möchte. Deswegen werde ich es hier nicht sagen. Stattdessen will ich, dass du weißt, dass du es selbst herausfinden wirst, egal, was du tust.
„SAG JA, SAG JA, SAG JA! LASS UNS ZEIT ZUSAMMEN VERBRINGEN!“, flüstert der Fremde in deine gierigen Ohren.
„Hallo zusammen, mein Name ist Vincent, ich freue mich, bei der heutigen Show euer Moderator zu sein! Ich möchte die heutige Vorstellung einem ganz besonderem Freund von mir widmen! Bitte einen tobenden Applaus für den besonderen Gast der Show! Er ist ein Regelbrecher, ein Mörder der Ideen, ein Stimmungskiller, ein Einzelgänger und der am meisten verachtete Mensch unseres Landes. Manche wagen ihn sogar als den meistgehassten Menschen der Welt zu betrachten! Bitte begrüßen Sie – meine Damen und Herren… halten Sie sich fest! Dieser Mensch hat es in sich, jeder hasst ihn, und trotzdem strotzt er nur voller Macht. MEINE DAMEN UND HERREN! Bitte begrüßen Sie den Neinsager, DEN LESER!“
Geschrei im Publikum, Applaus und Jubel in vollem Gange. Die Tür auf der Bühne öffnet sich und du schreitest heraus. Die Scheinwerfer brennen dir durch die Augen, doch dein Adrenalin schießt durch deinen Körper und du wagst dich zu mir, dem Moderator, der dich mit lachenden Augen begrüßt. Ich gebe dir die Hand, in meinem Willy Wonka Anzug. Mein Lächeln ist so fake wie die Edelsteine auf meiner Schulterpolsterung, doch ich leite dich zu deinem Sofa, auf dem du demonstrativ meine Fragen beantworten wirst.
„Sagen Sie mir, LESER, was unterscheidet sie von den anderen Menschen auf diesem Planeten? Warum sind Sie besser als die anderen? Was nehmen Sie sich heraus, bei Treffen abzusagen? Ist Ihre Zeit wertvoller als meine? Sind Sie wirklich mehr wert als der Rest der Menschheit? Glauben Sie nicht an unsere Traditionen? Wieso gehen Sie keinen Kaffee mit uns trinken? Schmeckt der Ihnen nicht? Und warum trinken Sie kein Bier mit uns nach der Arbeit? Was macht Sie so besonders, das würde ich gerne wissen.“, lächle ich dir provokant ins Gesicht. Alles, was du siehst, sind meine gemachten weißen Zähne und dann die Kamera, die professionell immer näher gezogen wird. Ein kleines LED-Licht leuchtet rot über der Linse. Das ganze Land schaut zu.
Du atmest ein, guckst in den schwarzen Filmapparat und vergisst alles um dich herum. Jetzt gilt es, die Wahrheit zu sagen, die eigene Überzeugung zu erklären, damit die Welt dich endlich versteht.
Bevor du überhaupt anfängst zu sprechen, fängt das Publikum an, deinen Namen zu rufen, aber nicht mehr so fröhlich wie gerade noch beim Einlass. Nicht mehr voller Begeisterung, sondern nur mit purem Hass. Als ob dein Atemzug ein Mittelfinger an die ganze Welt war, schreien und spucken sie in deine Richtung. „Wir hassen dich!“, hörst du von einem kleinen Mädchen aus der ersten Reihe. Alles ist wie in Zeitlupe. Ihre Mutter hält sie fest, doch das hält sie nicht vom Schreien ab, ihr Kopf färbt sich in ihrem Anfall fast so rot, wie ihre Zopfgummis, die ihre zwei blonden kleinen Strähnen an der Seite halten.
Wer bist du? Wer bist du, wer bist du!?
Weißt du das noch überhaupt selbst? Was machst du unterbewusst, ohne es je in Frage zu stellen? Schluckst du die Scheiße, die dir jeder Mensch täglich genauso unbewusst in den Kaffee mischt? Bist du eine Maschine der Gesellschaft geworden? Wer zum Teufel bist du?!
Täglich aufstehen, täglich arbeiten, täglich Freunde treffen, täglich nörgeln, täglich dies, täglich das. Täglich müde sein, täglich erschöpft sein. Und natürlich können wir nicht vergessen, was du jeden Tag am liebsten machst: Täglich den eigenen Stolz herunterschlucken, die eigene Persönlichkeit verstecken, täglich in die Massen passen.
Es macht mich wütend zu sehen, wie die Menschen ihr Leben wegwerfen. Es macht mich traurig zu sehen, was auf der Welt passiert, was für schlimme Dinge passieren. Doch nichts erwischt mich täglich eiskälter, als einen gebrochenen Menschen zu sehen. Die Augen eines ehemaligen Kindes, dessen Träume zerplatzt sind. Ein Mensch dessen Wille gebrochen wurde. Was ist passiert mit uns, als wir erwachsen wurden? Was wurde uns täglich eingetrichtert, dass wir diese Hülle einer Seele geworden sind?
Wenn du stirbst, wer bist du dann, bist du dann der Mensch, dessen Moral tief in dir liegt, oder bist du der Mensch, der du all die letzten Jahre täglich warst?!
Nein sagen, ist Stärke zeigen. Nein sagen, ist Ja sagen zu anderen Dingen. Nein sagen, wird nicht respektiert. Man bekommt Angst vor dem Nein und man bekommt Angst vor der folgenden Isolation eines Neins. Doch was passiert, wenn du trotzdem Nein sagst? Wenn du Nein sagst, weil du frei bist. Wenn du Nein sagst, weil du „Du“ bist. Wenn du Nein sagst, weil du nicht Ja sagen musst…
Das Verrückteste daran? Die Anderen tun’s auch. Achte mal darauf. Viele sagen Nein. Und wenn sie das Tun, dann merkt man es meistens gar nicht. Doch deine Angst ist nicht unbegründet. Wenn du zu oft Nein sagst, wirst du ausgestoßen, das stimmt. Man sieht dich mit anderen Augen. Man wird dich nicht mehr akzeptieren, weil es so aussehen wird, dass du die anderen nicht mehr akzeptierst. So be it. Sei frei und mach, was du willst. Jeder hat eine Meinung für dich, die besser sein soll als deine.
Grins dem Leben ins Gesicht und sag Ja zum Leben und Nein zu den Pflichten, die dir aufgezwungen wurden. Tue, was dich glücklich macht, indem du zuvor Nein zu den Dingen sagst, die dich unglücklich machen. Sobald du das tust, wirst du eine Freiheit spüren, gepaart mit endloser Energie. Du hast dir extra Zeit hierfür genommen? Oh ho ho, mein lieber Leser, du wirst diese freie Zeit nutzen. Immerhin hast du etwas dafür abgesagt.
Nein sagen ist eine Superkraft, wenn du sie richtig einsetzt.
Genug gepredigt, aber wie man sieht, habe ich eine klare Meinung darüber. Vor allem in den letzten Monaten in Japan merke ich, wie jeder Mensch sich der Gesellschaft fügt. Kein Mensch fragt sich, ob das richtig ist, sondern akzeptiert alles, was damit kommt. Die Unglücklichkeit, das Schicksal eines für die Firma gegebenen Lebens. Doch wenn man heraushorcht, ob etwas geändert werden soll, wird erklärt, dass das Leben nun einmal so ist. Als Ausländer aus dem Westen sehe ich das natürlich anders. Ich weiß, dass es auch anders geht. Ich verstehe natürlich aber auch, dass dies hier eine andere Gesellschaft ist. Man möchte aus dieser enggliedrigen Gesellschaft nicht herausgeworfen werden.
Das verstehe und respektiere ich.
Ich merke jedoch in den letzten Wochen Veränderungen in meiner Psyche. Ein Nein nach dem Anderen folgte und ich war raus aus der Gesellschaft meines Alltags. Nein zu sagen, für meine eigenen Jas machte mich zum unfreiwilligen Einzelgänger. Nicht viel später folgten Gefühle von Einsamkeit. Und dann verstand ich, warum all diese Zeilen einfacher gesagt sind als getan. Doch was hatte ich schon zu verlieren? Ein Selbstexperiment, was gewinne ich, wenn ich verliere? Wie wird das Leben das alles ausgleichen? Und dann am nächsten Tag und am Tag darauf, und wieder nach diesem Tag kam das Glück. Ich hatte meine alte Gesellschaft verloren, doch ZACK! Das Leben schenkte mir neue Kontakte, schenkte mir neue Gelegenheiten, jeden Tag aufs Neue. Und ich sagte weiterhin zu den Dingen, die mich nicht interessierten Nein! Nein, nein, nein! Doch egal, wie oft ich nein sagte, jeden Tag kam etwas Neues auf mich zu und dann eine Möglichkeit, die vielversprechend war. Ich sagte Ja. Ich entschied mich ganz bewusst für diese Möglichkeit. Und dann machte ich das die folgenden Wochen bei allen Entscheidungen. Ich habe auf meine bewusste Stimme gehört.
„WILL ICH DAS? WILL ICH DAS ÜBERHAUPT? SAG MIR, WAS BRINGT MIR DAS?“
Jeden Tag formte sich mein Leben ein bisschen anders. Und keine paar Wochen später waren meine Tage wieder voll mit allem möglichen Kram. Dinge, die mir Spaß machten, aber auch Dinge, die sich unbewusst entwickelt haben aus den Dingen, zu denen ich Ja sagte. Schon wieder war ich am gleichen Punkt. Und diesmal hatte ich noch weniger Energie als zuvor. Aber etwas war anders als davor:
Sobald ich merkte, dass ich etwas ändern sollte, hatte ich keine Scheu Nein zu sagen, obwohl ich vor einigen Wochen noch Ja gesagt hatte. Und ich merkte, dass dies nicht böse aufgenommen wurde.
Worauf ich hinaus will, ist Folgendes:
Wenn man Nein sagt, verschließt man sich zwar Türen, aber das Leben ist ein Hotel mit unendlichen Türen. Und wenn du 100 Türen schließt, gibt es noch immer genauso viele Türen vor dir, die du öffnen kannst. Und Türen schließen ist eine Freiheit, zumindest für mich.
Du musst dir keine Gedanken mehr um die Dinge machen, die du mit einem Nein mental abhaken kannst.
Wenn du heute das nächste Mal vor einer Wahl stehst und du bereit bist, Ja zu sagen, halte inne, lecke dir über deine Lippen und stelle dir vor, wie dein Leben alternativ verlaufen könnte. Träume ein paar Sekunden und fange dich dann wieder. Die größten Träume fangen mit den kleinsten Schritten an. Und in diesem Fall sind die Schritte ein Wort mit vier Buchstaben, welches mit die größte Macht auf der Welt hält, wenn du es richtig einsetzen kannst. Und jetzt lies weiter.