Ein Lebenszeichen in der Mitte des stillen Sees
Ein ruhiger See, Stille und Zeitlosigkeit: Eine poetische Erzählung über die Verschmelzung von Mensch und Natur.
ZWISCHEN DEN ZEILEN
Vincent
9/20/20255 min lesen


Ein Lebenszeichen in der Mitte des stillen Sees
Grüne Bäume auf der einen Seite des Sees, und flache Wiese auf der anderen Seite. Das Wasser ist klar und der Wind ist ruhig. Die Zikaden lassen dieses Bild zum Leben erwecken. Es ist später Sommer in Japan und keine Menschenseele weit und breit. Doch wer hier lang genug sitzt – angenommen, die Mücken stören einen nicht – der entdeckt vielleicht den ein oder anderen roten Fuchsschwanz zwischen den Gebüschen herumhuschen. Die Luft ist sauber und schön und selbst mit einiger Distanz zum See kann man das sachte Wasser und sein Ökosystem riechen. Es ist ein beruhigender Moment und der Blick gleitet mehrfach von Ufer zu Ufer. Ab und zu bewundert man den zweiten Horizont, der sich mitsamt den Bäumen und seinen Bergen im Hintergrund wie ein Ölgemälde auf dem Wasser abzeichnet. Diese Stille lässt die Zeit vergessen. Vergangenheit und Zukunft verschmelzen irgendwo unter und über der Gegenwart, die nun kein Konstrukt mehr ist, sondern einfach da ist. „Realität“ wirkt wie nichts Weiteres als ein ausgedachtes Wort einer fernen Welt. Es gibt niemanden, der den See in Frage stellt und sowieso keine Menschenseele, die irgendetwas fragen könnte, deswegen ist es unnütz über die Geschichte des Sees zu schreiben. Was jedoch eine Erklärung wert ist, ist die Besonderheit dieses Sees. Denn selbst wenn die Welt um den See herum eine Abmachung mit der Zeit gemacht hat, bleibt dieser Ort unberührt. So unberührt, dass selbst die Zeit noch nicht vorbeigekommen ist.
Doch sitzt man lange genug am See, so merkt man ein paar kleine Wunder: Zuerst vergeht der Wunsch, zu reden. Und wenn man dann noch länger bleibt, so passiert das Gleiche mit den eigenen Gedanken. Erst werden sie ruhiger, dann werden sie mit jedem Sonnenaufgang leiser und leiser, bis sie irgendwann nicht mehr zu hören sind. Selbst die lautesten und am tiefsten verwurzelten Gedanken lösen sich sacht und leise. Auch der Atem ändert sich. Langsame ruhige Atemzüge tauschen Unregelmäßigkeiten aus und sogar der Herzschlag passt sich an. In der Kälte der Nacht verlangsamt er sich und in der prallen Mittagssonne gleicht er dies mit schnellen Schlägen wieder aus. Doch ein Trend ist zu erkennen. Mit jedem Mond und jeder Sonne wird alles ein bisschen langsamer, der Atem, der Herzschlag, die Bewegungen des Körpers. Die Augen öffnen sich so ruhig, dass selbst der See kaum mitbekommt, wann man aufwacht. Die Hände und Füße, mit denen man seinen Körper stützt, werden von den Käfern und Fliegen als Teil der Umgebung akzeptiert. Und selbst die Grashalme, denen man einst mit seinem schweren Körper das Tageslicht genommen hat, haben nun einen Weg unter dem Körper herausgefunden. Sie haben sich an die Beine, Füße und Hände nun so sehr gewöhnt, dass sie langsam an ihnen emporwachsen. Sogar Frösche hüpfen nun ab und an von Bein zu Bein. Und der See, er schaut zu.
Neben den ersten kleinen Gewächsen, die sich um den Körper schlingen, wächst nun auch ein Setzling am Rücken entlang. Er tastet den Rücken ab und merkt, dass er höher wachsen muss, um Licht zu bekommen. Ein Sommer vergeht und aus dem Setzling wird ein junger, aber stark heranwachsender Baum. Aus Dank für die Wachstumsmotivation schenkt der Baum dem Körper seinen ersten abzweigenden Ast, der sich auf dessen Schulter abstützt und Richtung See wächst. Ein paar Krähen landen ein paar Mal auf besagtem Ast. Sie hinterfragen nicht, ob dies ein besonderer Baum ist, oder ob dieser Körper schon immer hier war. Sie blicken zum See, bis ein Krähen aus der Ferne sie ruft und sie diesen Ort wieder verlassen. Und einmal landet sogar ein Graureiher, mit majestätischem weißen Bauchgefieder vor dem Körper. Er geht ein paar Schritte Richtung Baum und die Spitze einer seiner Zehen berührt sogar ein Bein, welches nun unter hohem Gras kaum noch auszumachen ist. Doch der Reiher bleibt stehen und mustert den Baum und seinen ungewöhnlichen Partner. Er dreht den Kopf, doch die eigenen Atemzüge sind inzwischen zu langsam, um vom Reiher wahrgenommen zu werden. Ein krächzender, aber vorsichtiger Ruf, als ob eine Antwort erwartet wird. Stattdessen antwortet der Körper mit einem festen Herzschlag, der bis ins Bein hinunterwandert, den Zeh des Reihers pulsieren lässt und den Vogel erschreckt. Mit einem lauten Krächzen dreht er um und fliegt knapp über dem See davon. Ein paar weitere protestierende Rufe echoen über die Wasseroberfläche und man lächelt bei dem Anblick des davonfliegenden Reihers, der nun in der Ferne verschwindet. Dieses Lächeln bleibt bestehen, durch Frühling, Sommer, Herbst und Winter.
Der Baum wächst weiter heran und wird dicker und stärker. Erst erreicht er die Breite des eigenen Rückens, dann wächst er auch darüber hinaus. Doch noch bedeutender sind die Verzweigungen, die sich bedankend um den Körper geschlungen haben. Kleine Äste haben sich um die stützenden Arme gezwirbelt, Wurzeln wachsen über und unter den Beinen. Doch der erste Ast hat wohl das größte Wunder vollbracht. Durch die Stütze der eigenen Schulter hat er es geschafft, fast parallel zum Boden zum Wasser zu gelangen – Nein, sogar übers Ufer hinaus. Viele Meter schafft der Ast nun pro Monat, mit einer scheinbaren Mission über das Ufer in Richtung Mitte des Sees. Einige Male scheint der Ast fast das Wasser zu berühren, doch er wächst so, dass die Oberfläche des Wassers unberührt bleibt. Um dieses Wunder zu bewerkstelligen, wird der Stamm des Baumes immer dicker, massiver und auch höher. Und im Sommer darauf, wächst an dieser Spitze des eigenartigen Astes ein einziger Apfel heran. Erst mit den Blättern grün getarnt, wechselt er nun zu einem tiefen rot. Der See starrt mit seiner Spiegelung zurück. Nicht drohend, aber präsent – fast schon herausfordernd.
Der Ast hat nun einige Hundert Meter hinter sich gebracht und scheint schon bald die Mitte des Sees zu erreichen. Seine Frucht wächst langsam heran und sie zieht den Ast zum ersten Mal stetig zum Wasser. Der kräftige Baum, der inzwischen aussieht, als ob er hier seit Jahrtausenden steht, mag die Last des prallroten Apfels nicht mehr länger stemmen. An einem späten Tag im frühen Herbst hat erreicht der Ast sein scheinbares Lebensziel: Die Mitte des Sees. Der Apfel, nun tiefrot, wie eine Kirsche, glänzt in der Abendsonne, als er sich vom Ast löst. Als ob er unter jahrtausendlanger Spannung stand, schwankt der Teil des Baumes nun erleichtert nach etwas nach oben. Die rote Frucht hingegen fällt starr hinunter. Es ist nur ein kurzer Augenblick, doch der See spiegelt die Bewegung perfekt wider. Und dann passiert es. Der Apfel berührt die Oberfläche und durchbricht sein Ebenbild. Mit einem flüsterndem Platsch – das jedoch von jeder Uferseite gut zu hören ist – verschwindet die rote Frucht im See. Sieben kleine Wellen löst diese Einmaligkeit in jede Richtung aus und sieben kleine Wellen sind es, die gleichzeitig an jedem Ufer ankommen. Und dann Stille. Eine Stille, die erdrückend wirkt, denn all die Mühe, die sich der Baum gegeben hat, um zur Mitte des Sees zu kommen – wortlos verschlungen. Als die Abendsonne den See erreicht, passiert jedoch ein weiteres Wunder: der Ast, der vom sachten Wind wie eine Feder bewegt wird, wächst auf einmal rückwärts. Mit jedem Meter, die er kürzer wird, wandelt die Masse den Ast entlang, zurück in Richtung Baum. Das Ganze passiert innerhalb weniger Minuten und stoppt bei der Schulter des Körpers. Nur ein kleiner, unscheinbarer Ast bleibt zurück, dessen Blätter jedoch etwas grüner und etwas dicker sind als die anderen Hunderttausenden am Baum.
Und dann geschehen ein paar sonderbare Dinge gleichzeitig, doch ob sie voneinander abhängig sind, ist ungewiss: Eine einzige Träne rollt dem Gesicht herunter. Der letzte Atemzug des Körpers. Der Baum pulsiert einmal kräftig und in der Mitte des Sees springt ein riesiger majestätischer kirschroter Koi aus dem Wasser, bevor er ohne einen einzigen Spritzer wieder im Wasser landet. Er zirkelt mit kräftigen, aber fließenden Bewegungen knapp unter der Wasseroberfläche. Und dann, wieder endlose Stille. Doch alle paar Jahre, pulsiert der Baum und lässt den Koi für einen Moment erscheinen – ein Lebenszeichen, in der Mitte des stillen Sees.